Kennen Sie den Begriff „All-Nighters“? Eigentlich kennt man diesen Begriff nur von ausgebeuteten Assistenzärzten mit 36-Stunden (+)-Diensten in akademischen Lehrkrankenhäusern. Aber im Büro? Es gibt Branchen, in denen hat sich der „All-Nighter“ fest etabliert: Investmentbanker, Rechtsanwälte/Steuerberater/Wirtschaftsprüfer in Kanzleien mit hohem M&A-Anteil, anglo-amerikanische Unternehmen, Private Equity-Gesellschaften usw.
Arbeitszeit und Freizeit haben jeweils ihre Berechtigung
Immer dann wenn es um viel Geld geht, erhält die Arbeitszeit eine neue Qualität – jedenfalls in der Wahrnehmung von Kollegen und Chefs. Da schaukeln sich ganze Abteilungen und Geschäftsbereiche gegenseitig hoch; wer um 20:30 Uhr den Feierabend einläutet, wird mit einem fröhlichen „Sie wollen sich wohl einen schönen Nachmittag machen, wie?“ oder „Sie haben wohl nix zu tun, was?“ verabschiedet.
Da entsteht ein ganz schöner Gruppendruck, vom Druck von oben mal ganz zu schweigen. Aber ganz ehrlich: Wer von sich behauptet, 14 Stunden Arbeitszeit und mehr am Stück pro Tag produktiv und fehlerfrei (!!) zu arbeiten, verkennt die Realitäten.
Eine Untersuchung der University of California, Berkeley, und der Harvard Medical School (veröffentlicht im März 2011 im Journal of Neuroscience) konnte nachweisen, dass eine schlaflose Nacht nicht nur launisch und mürrisch macht. Ein Nebeneffekt von Schlafentzug führt bei kurzzeitigen euphorischen Zuständen zu einem deutlich eingeschränkten Urteilsvermögen und kann Suchtverhalten auslösen. Ein Gehirn, das regelmäßigem und andauerndem Schlafentzug ausgesetzt wird, erzeugt eine gefühlsmäßige Pendelei zwischen Euphorie und übellauniger Unkonzentriertheit. Beide Zustände erzeugen nicht nur keine optimalen Voraussetzungen für ein detailgenaues Denken zur Findung von weitreichenden Entscheidungen, sondern reduzieren die Qualität von Arbeit und Entscheidungsfindung erheblich.
Während des Schlafes wechselt der Körper zwischen den beiden Hauptphasen in der Nacht:
In der REM – Rapid-Eye-Movement-Phase verarbeiten Körper und Gehirn bewusste Erlebnisse in Form von Träumen. Zu erkennen ist diese Phase an den schnellen Augenbewegungen unter den Lidern.
In der NREM – Non-Rapid-Eye-Movement-Phase verfallen Muskeln und Gehirn in einen Zustand der totalen Tiefenentspannung, in dem sich Körper und Geist erholen.
Frühere Studien konnten bereits nachweisen, dass bei Menschen mit Bewusstseinsstörungen diese Zustandsmuster von REM- und NREM-Phasen regelmäßig gestört waren.
In der Vergleichsuntersuchung der UC Berkeley konnte im Magnetresonanz-Tomograph bei Probanden mit Schlafentzug eine deutlich erhöhte Aktivität des mesolymbischen Systems nachgewiesen werden. Dieser Gehirnbereich wird vor allem durch die Ausschüttung von Dopamin gesteuert, einem Neurotransmitter, der für die Steuerung von positiven Gefühlen, Konzentration, Motivation, Sexualtrieb, Sucht, Lustempfinden und Entscheidungsfähigkeit verantwortlich ist.
Systematischer Schlafentzug ist heute allgemein als körperliche Misshandlung, also als Folter z.B. im Sinne des Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention, Art. 5 der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen und nicht zuletzt Art. 1 i.V.m. Art. 104 der GG der BRD anerkannt.
Aber auch wenn sich manche Arbeitnehmer bereits aus grundsätzlichen Überlegungen wie in Guantanamo fühlen – überdurchschnittlich lange Arbeitszeiten bedürfen selbstverständlich einer differenzierten Betrachtung.
Zu einem pathologisch relevanten Zustand führen solche Arbeitszeiten gepaart mit extrem reduziertem Schlaf nur, wenn sie über einen längeren Zeitraum andauern, ohne dass die Mitarbeiter Gelegenheit zu Pausen und Ruhezeiten sowie Phasen der Kompensation und Erholung erhalten. In den eingangs erwähnten Branchen ergeben sich in der Tat bedenkliche Entwicklungen hinsichtlich Alkohol- und Drogensucht durch die Fixierung des Leistungsniveaus auf diesem außerordentlich hohen Level.
In anderen Branchen wird der außerordentlichen Arbeitsbelastung der Mitarbeiter durch klare und eindeutige Vorschriften über feste Ruhezeiten und vorgezogenen Ruhestand Rechnung getragen, wie z.B. bei Fluglotsen. In normalen deutschen Büros dürften vergleichbare Belastungen aber eher hausgemacht sein. Ja, bei besonderen Gelegenheiten oder Notwendigkeiten kann man auch schon einmal im Team die Nacht zum Tage machen, das fördert den Zusammenhalt im Team bei Kaffee und Pizza und steigert auch gemeinsam die Euphorie.
Führungsseitig kommt aber auch die Fürsorgepflicht von Arbeitgeber und Vorgesetztem zum tragen: Ein Blick in die Arbeitszeit regelnden Gesetze und Verordnungen schafft Orientierung. Ein Verstoß durch Überschreiten der zulässigen Grenzen von 8 Std. bzw. in Ausnahmefällen von 10 Stunden täglich ist nicht nur haftungsrechtlich relevant z.B. bei Arbeitsunfällen. Bei fahrlässiger oder vorsätzlicher Verletzung der Arbeitszeitgesetze drohen Arbeitgebern und Vorgesetzten Geldbußen zwischen € 2.500,00 und € 15.000,00. Bei vorsätzlicher Handlung und daraus resultierender Verletzung von Gesundheit und/oder Arbeitskraft kann sogar eine Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr verhängt werden.
Lassen Sie es also in Ihrem Unternehmen gar nicht erst soweit kommen! Sorgen Sie in Ihrem Unternehmen oder in Ihrem Team durch systemische Organisationsentwicklung dafür, dass die zu erledigende Arbeit im Rahmen der gesetzlichen Arbeitszeit erledigt werden kann. Stellen sie die erforderlichen Instrumente zur Verfügung und berücksichtigen Sie bei der Planung saisonale oder sonstige besondere Einflussfaktoren, die besondere Arbeitsleistungen vorübergehend notwendig machen. Und lassen Sie die Arbeit einer Amplitudenbewegung folgen: Nach einer Phase der Höchstleistung muss eine Phase der Entspannung und Erholung folgen!
Machen Sie Ihren Mitarbeitern deutlich, dass Sie sie für ihren Kopf bezahlen und nicht für ihren Hintern, der auf einem Bürostuhl sitzt. Messen Sie den Erfolg und die Qualität von Arbeit am produktiven Ausstoß und nicht am Stand der Arbeitszeitkonten. Die sprichwörtlichen Heinzelmännchen entstammen der Welt der Märchen – und genau da gehören sie auch hin.
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